Herkunft und Spannungsfeld der Freimaurerei
Hans-Hermann Höhmann
Herkunft und Spannungsfeld der Freimaurerei
Festzeichnung zum 60. Stiftungsfest der Loge „Ver Sacrum“ am 19. Oktober 2015
Die Loge „Ver Sacrum“ feiert heute die sechzigste Wiederkehr ihres Gründungsjahrs als gerechte und vollkommene Loge. Im Jahre 1955, als sie selbständig wurde, lagen vier Jahre Vorgeschichte als Deputationsloge der Loge „Zum ewigen Dom“ hinter ihr, Jahre, in denen ihre Konzeption entwickelt wurde und ihr Ritual entstand.
Zukunft braucht Herkunft, doch Herkunft taugt nur, wenn sie erinnert wird, wenn sie als angeeignete Herkunft ihr Zukunftspotenzial behält.
Erinnern wir uns also:
Die Loge „Ver Sacrum“ wollte von Anfang junge und jung gebliebene Menschen für eine zukunftsorientierte Freimaurerei gewinnen. Dies verdeutlicht auch der gewählte lateinische Logenname, der auf eine altrömische Legende verweist:
Eine Stadt wird von tödlichem Unheil bedroht. Um verschont zu werden, versprechen die Einwohner, den Göttern die nächste Generation junger Menschen zu opfern. Die Götter verzichten auf dieses Opfer, verpflichten aber die Jugend der Stadt zum Aufbruch aus den alten Mauern und zur Errichtung einer neuen Gemeinschaft.
Ludwig Uhland hat diesen Auftrag in seinem Gedicht „Ver Sacrum“ mit folgenden Worten umschrieben:
„Nicht lässt der Gott von seinem heil’gen Raub, Doch will er nicht den Tod, er will die Kraft; Nicht will er einen Frühling welk und taub Nein, einen Frühling, welcher treibt im Saft. Ihr seid das Saatkorn einer neuen Welt; Das ist der Weihefrühling, den er will.“
Wie viele Gestaltungsvorschläge für die neue Loge geht auch der Name „Ver Sacrum“ auf den großen Anreger der Bauhütte, Br. Rudolf Jardon zurück, der sich bei der Namenswahl an der gleichnamigen Zeitschrift der Wiener Sezession orientierte, einer Vereinigung von Künstlern, die – wie die junge Loge – eigene und zugleich neue Wege gehen wollte. Auch die Gestaltung des Logenbijous durch Br. Jakob Bachem weist mit ihrem eleganten Jugendstildesign auf den Wiener Anstoß hin.
Dokumente über das freimaurerische Denken unserer Gründer sind nicht allzu zahlreich vorhanden. Doch im Archiv der Loge findet sich ein Text, den Rudolf Jardon unter dem Titel „Der Dom durch sieben Jahrhunderte“ in der Rheinischen Zeitung vom 14. August 1948 veröffentlicht hat. Br. Jardon erläutert die doppelte Funktion des Kölner Doms als „historisches Baudenkmal“ und als Symbol für die Arbeit am Bau einer besseren Gesellschaft und schreibt am Ende seines Textes:
„Wie wird dieses Symbol in einer neuen dämmernden Welt Gestalt gewinnen? … Der Nationalsozialismus hat sich in peinlich drastischer Form mit dem Einschlag deutscher Granaten in die schönsten Teile des Baues verabschiedet … Doch wir wissen heute auch, hellwach und herzbeklommen, was uns unwiederbringlich von Geist und Wesen der Gotik trennt. Die Steine sind totes Vermächtnis, wenn sie nicht eine neue Sprache reden lernen. Für den Gläubigen und für den Deutschen. Alte Formeln sind ausgebrannt. Der Anspruch des Symbols bleibt.“
Und Jardon schließt mit den Worten: „’Doch rufen von drüben die Stimmen der Geister, die Stimmen der Meister…’. Von drüben. Wir stehen hier. Die Antwort wird uns nicht abgenommen.“
Eine neue Sprache sprechen,
alte Formeln sind ausgebrannt,
hellwach und herzbeklommen stehen wir hier,
die Antwort wird uns nicht abgenommen,
der Anspruch des Symbols bleibt.
Meine Brüder, umfassender und zugleich in seiner Kürze prägnanter kann wohl nicht ausgesprochen werden, was „Ver Sacrum“ als Spannungsbogen zwischen Herkunft und Zukunft meint.
Die Loge hat versucht, den mit ihrem Namen formulierten Auftrag zu erfüllen. Über viele ihrer Aktivitäten wäre zu berichten, aus allen Perioden der Logengeschichte.
Doch das Wichtigste ist, dass die innere Arbeit der Loge geprägt wurde und wird durch eine kreative Pflege des freimaurerischen Rituals. Das von Rudolf Jardon vor Gründung der „Vereinigten Großloge von Deutschland“ im Jahre 1949 auf der Grundlage bestehender Rituale – vornehmlich des Bluntschli-Rituals der Großloge „Zur Sonne“ in Bayreuth – erarbeitete Ritual des Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrades vermittelt auf überzeugende Weise, was ein freimaurerischen Ritual zu leisten vermag:
- Ruhe und Nachdenklichkeit zu fördern,
- ethische Erziehung durch Symbole und rituelle Handlungen zu bewirken,
- Erfahrung von Entwicklung und Veränderung durch gemeinsamen Mitvollzug der Initiation neuer Brüder und die anderen „Übergangsriten“, die Beförderungen und Erhebungen, zu vermitteln,
- Erleben von kreativer Öffnung aller Sinne durch die rituelle Multimedialität zu ermöglichen (auch Musik spielte innerhalb der Ritualgestaltung immer eine große Rolle) und schließlich, aber nicht zuletzt
- Anstöße zur Auseinandersetzung mit menschlichen Grenzerfahrungen wie insbesondere dem Tod zu geben.
Dem Ritual nachzusinnen, nach seinem Auftrag zu fragen, ist an jedem Stiftungsfest erforderlich, vor allem aber, wenn dieses Fest – so wie heute – mit einer Aufnahme verbunden ist und wir einen neuen Bruder als Mitarbeiter am großen Bau begrüßen können.
Wir haben ja gerade wieder erlebt, wie überzeugend die Freimaurerei das ihr eigene Menschenbild in drei großen Sinnbild-Komplexen zusammenfasst:
- der Symbolik des Lichtes,
- der Symbolik des Wanderns
- und der Symbolik des Bauens.
Die Lichtsymbolik veranschaulicht den transzendenten Bezug des Freimaurers, seine Rückgebundenheit an einen tragenden Grund seines Seins, seine Verantwortung und seine Hoffnung. Licht symbolisiert Lebenskraft und Lebensgrundlage, Sicherheit und vertrauenswürdige Ordnung. Licht steht aber auch für Aufklärung, für den menschlichen Akt der Wahrheitserkenntnis, dafür, dass der Maurer – so das Ritual unserer Loge – sich vor Lehren hüten soll, die das Licht der Vernunft nicht aushalten. Und es ist diese ausgreifende Bedeutung des Lichts als komplexes Symbol für Lebensquelle, Lebenskraft, moralischer Wegweisung und Suche nach Wahrheit, welche die „Lichtgebung“ zum zentralen Bestandteil des Aufnahmerituals und die „Lichteinbringung“ zum Kern der rituellen Einsetzung einer Loge oder der Weihe eines neuen Tempels macht.
Die Symbolik des Wanderns veranschaulicht den besonderen Charakter unserer Lebensreise. Der Mensch ist unterwegs, er muss aufbrechen, er verändert sich, er hat Altes hinter sich zu lassen und selbst, wenn er zum Ausgangspunkt zurückkehrt, ist er verwandelt. Initiation bedeutet ja nicht mehr und nicht weniger als die Chance, Veränderungen produktiv an sich selbst zu erleben.
Die Bilderwelt des Bauens schließlich umreißt Inhalt und Ziel unserer Arbeit: Wir bauen den Tempel der Humanität. Wir verstehen Sein und Zeit als sinnvoll zu gestaltende Bauwerke. Wir gehen davon aus, dass unserem Bauen eine wertgebundene Bauidee zugrunde liegt: Wir bauen eine Heimat für Menschen, eine Heimat, die nicht nur am großen Entwurf des Tempelbaus orientiert ist, die vielmehr vor allem im tagtäglichen Bemühen um menschenwürdige Wohnverhältnisse in den Alltagsgehäusen unserer Mitmenschen ihren Ausdruck zu finden hat: Quartiere auch für Menschen in Not, für Menschen auf der Flucht. Bauaufgaben, meine Brüder, sind ja oft bestürzend aktuell. Am Bau einer besseren Welt mitzuwirken mit Sensibilität, Augenmaß, Empathie und Engagement wurde immer schon als Werkaufgabe der Frei-maurerei verstanden.
Den Inhalt dieser Aufgabe für unsere Zeit auszuloten, die Dimension des Politischen für die Arbeit der Brüder, der Logen und der Großlogen in ihren Möglichkeiten, aber auch in ihren Grenzen eindeutiger zu fassen und umzusetzen, hieran sollten wir mit geschärftem Bewusstsein für das Mögliche und Nötige weiter arbeiten.
Und unsere Loge hat eine gute Tradition, an die angeknüpft werden kann!
60 Jahre „Ver Sacrum“:
Wir freuen uns über das Erreichte, das Geschaffene.
Doch wir wissen, dass wir weiter bauen müssen an unserem Bund in seiner untrennbaren Einheit von brüderlicher Gemeinschaft, humanitärer Ideenwelt und symbolisch-ritueller Form.
Die Freimaurerei der Loge „Ver Sacrum“
- ist keine Freimaurerei der überflüssigen Arabesken, nein, sie ist eine Freimaurerei des Wesentlichen,
- sie folgt alten Traditionen und ist zugleich modern,
- sie lässt sich in die Gesellschaft hinein vermitteln und
- sie macht – wenn sie überzeugend praktiziert wird – auch richtig Spaß!
Aber meine Brüder, dies zum Schluss und mit Nachdruck: manchmal holt uns ja auch der bittere Ernst des Tages ein. Das politische Klima im Deutschland dieser Tage bereitet Sorge. Der Mordanschlag auf Henriette Reker, der Kandidatin bei der Kölner Oberbürgermeisterwahl, hat uns alle erschüttert. Und daher sollte es für uns Maurer auch im Sinne des Erbes und des Auftrags unsere Loge selbstverständlich sein, die Zivilgesellschaft zu stärken in der Abwehr von Gewalt und Fremdenhass. Vor 1933 hat die deutsche Freimaurerei weithin versagt und offen mit der völkischen Bewegung und dem Nationalsozialismus sympathisiert. Auch heute höre ich zunehmend Töne aus dem Bund, die mich besorgen. Pegida-Tendenzen und Stammtischparolen beginnen, akzeptiert zu werden. Uns als Freimaurern aber hat es um nichts anderes zu gehen als um den Menschen, den Einzelmenschen, den „bloßen“ Menschen, wie Lessing sagt, den Menschen gleich welcher Rasse, Nationalität und weltanschaulicher Überzeugung, den Menschen mit seinen Nöten und Hoffnungen. Die Menschen, die zu uns kommen, aber auch uns selber gilt es einzubinden in die politische Kultur unseres Grundge-setzes, die beginnt und endet mit der verpflichtenden Feststellung:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Lasst uns in diesem Sinne mit Vernunft und Besonnenheit, mit Leidenschaft und Augenmaß, im Denken, Reden und Handeln, unseren Teil politischer Verantwortung für das Gemeinwe-sen, das Beste, was wir je in Deutschland hatten, übernehmen.
Es geschehe also!